"Medizin"

Vorurteile sind hartnäckig. Besonders persistent sind jene über mit detailierten differentialdiagnostischen Listen hantierende Theoretiker, die ihr Fach gern „Medizin“ nennen. Bevorzugt werden grosse und kleine Problemchen versessen „abgeklärt“; was den Alltag des Patienten nicht stört und harmlos scheint, könnte schliesslich eine wichtige (vermutlich nicht heilbare) Pathologie sein. Nachdem in der Enge des Stationsbüros mit grellen Farben breiter Stifte Befundbögen und Vorberichte coloriert, verlässt man nach niemals endender Fleissarbeit bedeutungsschwer Station und Spital, um früh am Morgen wieder kandiertes und hydraulisches zurechtzurücken. Dem schliesslich gnädig Entlassenen werden lange Medikamentenlisten und kluge Worte für den Hausarzt eingepackt. Schade nur, dass dem Patienten am häuslichen Frühstückstisch schon nach Arznei Nummer zwei der Appetitt vergeht. Der Hausarzt, motiviert und bestrebt den stationären Eierköpfen zu Diensten zu sein, arbeitet schwitzend (wissend um die fehlende Konsequenz) die Liste der ambulanten Kontrollen ab und übersetzt die Krankenhausapotheke in alltagstaugliche Pharmakologie. Wenn der Kreis sich schliesst, der Patient „entgleist“ und hospitalisiert wieder seinen Internisten gegenübertritt, werden diese nicht versäumen, sich auf hohem intellektuellen Niveau mit Witzchen über die Kompetenz des Hausarztes zu erheitern. „Medizin“ ist etwas anderes.

Eine Antwort

  1. Medizin ist Alltag und eben keine Krankenhausserie mit Augenklappen- oder Krückstock-tragenden sozial-ataktischen IQ-Monstern (Houseärzte), die nebenher als Neurologe noch schnell mal eine Lunge biopsieren, die Herzbeuteltamponade entlasten und im Abdomen nach Außerirdischen suchen. Die Gewässer der Alltagsmedizin sind langweilig plätschernde Rinnsale, einschläfernd, … das macht es wieder so gefährlich. In irgendeinem Strudel steckt doch die Leiche.

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